Das Projekt "LOTSE"

In dem Hamburger Projekt LOTSE (Leben ohne Tumor - Strategien und Edukation) geht es um die Betreuung von Langzeitüberlebenden nach Krebs. Annette Kruse-Keirath von der Allianz gegen Brustkrebs führte ein Interview mit Dr. Georgina Schilling, Onkologin am Uniklinikum Hamburg-Eppendorf.

 

  • Allianz gegen Brustkrebs:                    

Mehr als 360.000 Frauen mit Brustkrebs gehören allein in Deutschland zur Gruppe der „Langzeitüberlebenden“.  Über welche Probleme klagen diese Frauen am meisten? Welche Langzeitfolgen der Brustkrebserkrankung sind nach Ihrer Erfahrung am gravierendsten?

Dr. Schilling:
Viele Brustkrebspatientinnen klagen über Lymphödeme und Knochen- und Gelenkschmerzen in Folge der antihormonellen Therapie. Und auch die häufig therapiebedingte Osteoporose führt bei einigen Frauen zu starken Beschwerden. Ebenso wie die Polyneuropathie, die oft nach einer Taxan-Chemotherapie auftritt. In der Literatur heißt es zwar, diese verschwände nach einiger Zeit wieder. Mir berichten aber viele Brustkrebspatientinnen auch noch Jahre nach der Therapie von Empfindlichkeitsstörungen in Händen und Füßen. Und natürlich darf man auch die chronischen Erschöpfungs-zustände und die Schädigungen am Herzen nicht außer Acht lassen. Für die Fatigue lassen sich oft keine organischen Ursachen finden – die Frau müsste eigentlich fit und leistungsfähig sein – sie fühlt sich aber schlapp und ausgelaugt. Entscheidend für die Behandlung ist hier meiner Ansicht nach nicht der vermeintlich objektive Befund, sondern das Befinden der Frau. Hier müssen wir von ärztlicher Seite sensibel für die Bedürfnisse der Frau sein und ganz individuell auf sie eingehen.

  • Allianz gegen Brustkrebs:           

In den USA gibt es schon seit vielen Jahren Cancer Survivorship Programme. für Krebspatienten. Warum gibt es so etwas in Deutschland nicht? Fehlt es an entsprechendem Problembewusstsein, so dass die Medizin den Bedarf der Patientinnen erst jetzt erkannt hat?

Dr. Schilling:  
Nein, es fehlt keineswegs an Problembewusstsein, sondern ganz schlicht und einfach an Geld. In den USA werden diese Programme häufig durch Spenden und andere private Geldmittel finanziert. In Deutschland haben wir eine solche Tradition nicht. Zudem haben Survivorship Programme in Deutschland auch deshalb keine Lobby, weil es hier nicht um die Entwicklung von Medikamenten oder Geräten geht, mit denen sich später Geld verdienen lässt. Diese Programme erschließen eben keine neuen Märkte, sondern helfen nur einzelnen Menschen durch eine kompetente Beratung und persönliche Betreuung. Solche Gesprächsleistungen werden in Deutschland vergleichsweise schlecht honoriert, obwohl der Bedarf riesig ist.  Es ist deshalb meines Erachtens wichtig, bei der Beurteilung solche Programme nicht nur zu schauen, was die Einrichtung im Moment kostet, sondern ob sie sich langfristig rechnen. Denn durch eine bessere Betreuung lassen sich sicherlich mittelfristig Folgekosten sparen, weil die Patientinnen z.B., weniger Medikamente benötigen, körperlich und seelisch gesunder sind und damit ihr Leben beruflich wie privat aktiver gestalten können.

  • Allianz gegen Brustkrebs:     

Brustkrebspatientinnen werden nach Abschluss der „offiziellen Nachsorge“ meist von niedergelassenen Ärzten – Frauenärzten oder Hausärzten betreut. Diese Betreuung wird als unterschiedlich „gut“ wahrgenommen. Haben die Ärzte das entsprechende Know how, um die Langzeitfolgen einer Krebserkrankung und –behandlung zu erkennen und die betroffenen Patientinnen adäquat zu behandeln? Was muss nach Ihrer Auffassung geschehen, um diese Kolleginnen und Kollegen für die diese Aufgabe noch weiter zu qualifizieren?

Dr. Schilling:  
Hier sprechen Sie ein sehr wichtiges Thema an. Wir haben sicherlich noch einen enormen Bedarf an Weiterbildung für die hausärztlichen und fachärztlichen Kolleginnen und Kollegen, damit sie  Langzeitfolgen einer Tumorerkrankung frühzeitig erkennen und den Patientinnen und Patienten adäquate Therapieangebote machen können. Oft werden unnötige und unwirksame Untersuchungen durchgeführt, nur um die Patienten zu beruhigen oder überhaupt irgendetwas zu tun. Das führt dann nicht zu einer besseren Nachsorge, sondern eher zu Verunsicherung und Ängsten bei den Patienten. Hier brauchen wir fundiertes Wissen und funktionierende Netzwerke, an die niedergelassene Kolleginnen und Kollegen sich wenden können.

Im Rahmen des Projektes „LOTSE“ planen wir deshalb auch ein spezielles Weiterbildungsprogramm, um Ärztinnen und Ärzte für die Langzeit-Nachsorge von Tumorpatienten zu sensibilisieren und zu qualifizieren. Wir können hier aber nicht den zweiten Schritt vor dem ersten tun, weil wir in der jetzt anlaufenden Pilotphase zunächst die Betreuungsangebote für die Patientinnen und Patienten aufbauen möchten.

  • Allianz gegen Brustkrebs:        

Mit dem Projekt LOTSE setzt das UCCH ein Startsignal und will für das Problem einer notwendigen Langzeit-Nachsorge sensibilisieren. Was kann eine Frau mit und nach Brustkrebs ganz konkret erwarten, wenn sie sich für die Teilnahme am Projekt entscheidet?

Dr. Schilling:  
Wir bieten für die Frauen eine spezielle Sprechstunde an – einmal in der
Woche auch abends, damit auch Berufstätige das Angebot nutzen können.  Wenn eine Brustkrebspatientin am Projekt LOTSE teilnimmt, wird sie zunächst von einer speziell ausgebildeten Mitarbeiterin befragt, wie sich ihre derzeitige Lebenssituation darstellt und wo sie vielleicht Unterstützung benötigt. Das kann bei der Bewältigung beruflicher, familiärer, seelischer oder psychischer Probleme sein. Häufig wünschen sich Patientinnen auch eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens, der gerade bei einer Krebserkrankung in Frage gestellt zu sein scheint. Hier ist dann eine spirituelle Unterstützung wichtig. Hier setzen wir einen Fragebogen ein, damit wir die Daten auch später wissenschaftlich auswerten und aufbereiten können.

Nach dieser Anamnese folgt ein ausführliches Gespräch mit dem Arzt. Wir fragen nach körperlichen Beschwerden und Beeinträchtigungen, besprechen mit der Patientin aber auch, ob eine Therapie zu diesem Zeitpunkt für sie richtig und angemessen ist. Vor allem kommt es darauf an zu zeigen: Das, was Du fühlst, ist normal, du bist nicht allein, anderen geht es ähnlich,  Deine Fragen und Anliegen sind berechtigt. Wir möchten der Frau helfen, schneller wieder im Leben Tritt zu fassen, ihre körperliche und seelische Leistungs-fähigkeit wiederzugewinnen und ihren Alltag besser zu bewältigen. Dort, wo es notwendig ist, vermitteln wir der Frau anschließend einen Kontakt zu kompetenten Therapeuten oder Ärzten, damit sie die Unterstützung bekommt, die sie benötigt. Insoweit verstehen wir uns als auch als „Lotse von Informationen“.

  • Allianz gegen Brustkrebs:          

Im Projekt LOTSE  geht es darum, für Patienten einen individuellen medizinischen Nachsorgeplan zu erarbeiten. Unterschiedliche Fachabteilungen sind beteiligt, stimmen sich untereinander ab und wollen Patientinnen so dabei unterstützen, mit den Spätfolgen der Erkrankung besser  zu Recht zu kommen.  Glauben Sie, dass die Langzeitnachsorge dann, wenn das LOTSE-Projekt positive Ergebnisse zeigt, zu einem festen Bestandteil der Versorgung onkologischer Patienten wird und das solche Angebote dann allen Krebspatienten in der Bundesrepublik zur Verfügung stehen?

Dr. Schilling:  
Ich glaube ganz sicher, dass wir durch diese Form der Langzeitnachsorge für die Patientinnen und Patienten sehr viel bewirken können und bin zuversichtlich, dass unsere Erfahrungen auch Einfluss auf die Versorgungswirklichkeit in Deutschland haben werden. Wir haben bereits positive Erfahrungen in der Langzeit-Nachsorge von Kindern, die in jungen Jahren an Krebs erkrankt sind.  Diese können wir nutzen, um altersgerechte Angebote auch für Menschen zu entwickeln, die in einem späteren Lebensalter an Krebs erkranken. So wie wir in der Therapie die personalisierte Medizin weiter entwickeln, benötigen wir in der Nachsorge eine individualisierte Betreuung. Natürlich müssen wir uns bei aller Euphorie und Begeisterung an wissenschaftlichen Standards messen lassen. Wir werden deshalb prüfen, wer unser Angebot nutzt, welche Ergebnisse die intensivierte Betreuung für die Teilnehmer des Programms hat und in welchem Verhältnis Aufwand und Nutzen zueinander stehen. Ich bin mir aber sicher: Am Ende der Pilotphase wird ein positives Ergebnis stehen.