WINHO

Modernisierung der Chemotherapie: Oralisierung und Stratifizierung

Bericht vom Symposium 10 Jahre WINHO – „Wissenschaftliches Institut der niedergelassenen Hämatologen und Onkologen” Februar 2015 von Ulla Ohlms

In Deutschland liegt die Versorgung krebskranker Menschen mit Chemotherapien und anderen systemischen Therapien  in den Händen der Hämato-Onkologen. Sie arbeiten sowohl in den Kliniken als auch in Schwerpunkt Praxen. Die Hälfte der Krebskranken wird bei den niedergelassenen Ärzten versorgt, die andere Hälfte wird in den Kliniken behandelt. In den Schwerpunktpraxen der niedergelassenen Onkologen werden jährlich zwischen 400.000 und 5000.000 Patienten behandelt. Das wissenschaftliche Institut WINHO begleitet die Arbeit in den Praxen. Im Februar wurde in Berlin das 10-jährige Bestehen dieses Instituts mit einem wissenschaftlichen Symposium gefeiert. Hier ein paar interessante Informationen aus den Vorträgen.

Alles in Ordnung bei der Versorgung von Krebspatienten?

Qualitätsförderung und Qualitätsvergleiche sind oberstes Ziel des WINHO. Die ambulante Versorgung krebskranker Menschen wächst stetig. Rund 1,3 Mio. Euro jährlich werden in den Praxen allein für Medikamente verbraucht. Es fällt auf, dass die Versorgung von Krebskranken mit Migrationshintergrund Lücken aufweist. Welche Barrieren sind es, die zur Unterversorgung dieser Personengruppe führen? Sprachbarrieren? Kulturelle Unterschiede? Unsichtbare Barrieren beim Gesundheitssystem?

Eine weitere Frage lautet: Gibt es vielleicht eine Überversorgung am Lebensende? Darauf deutet manches hin. Dies hat mit den Fortschritten in der Onkologie zu tun: Fortschritte ermöglichen ein längeres Leben. Aber das führt  zu einer stärkeren Medikamentenapplikation. Antworten werden aus den Krebsregistern erwartet.

Aus dem längeren Überleben ergeben sich neue Herausforderungen. Die langfristige Begleitung von Krebspatienten rückt stärker in den Fokus. In den USA ist dieser Aspekt schon länger Bestandteil der onkologischen Versorgung. „Survivor Care“ heißt die Sorge für Menschen, die lange mit ihrer Krebserkrankung leben. Hier hat Deutschland etwas nachzuholen. Bisher gilt der Krebskranke nach der Behandlung und erst recht fünf Jahre später als geheilt. Den „geheilten“ Krebspatienten wird zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt und späte Rückfälle, Zweittumore und langfristige Nebenwirkungen werden zu wenig beachtet und begleitet.

Chemotherapie durch Tabletten – ist das immer gut?

„Oralisierung“ ist ein weiteres Stichwort der aktuellen onkologischen Versorgung. Immer mehr zytostatische Medikamente müssen nicht mehr intravenös verabreicht werden – es gibt inzwischen Tabletten, die den gleichen Zweck erfüllen. Auch die subkutane Injektion bestimmter Krebsmedikamente macht aus einem vierzehntägigen  mehrstündigen Aufenthalt in der onkologischen Praxis einen Kurzbesuch mit schnellem Pieks. Der Arzt muss deutlich seltener aufgesucht werden.

All diese Neuerungen sind aus Sicht der Patienten zu begrüßen. Sie verkürzen die Arztbesuche, beenden das deprimierende „Hängen“ an der Infusion, machen es leichter, Berufsleben und Chemotherapie miteinander zu verbinden. Aber es gibt auch Schattenseiten, die klar genannt werden müssen. Wird die Tabletteneinnahme Zuhause auch ehrlich durchgeführt? Studien zeigen, dass die Therapietreue deutlich nachlässt. Tabletten werden weggelassen, die Dosis wird eigenmächtig reduziert, halbiert usw. Ein Erfolg der Therapie ist gefährdet, das Überleben nicht gesichert.

Und noch etwas: Die Rolle der Kranken verändert sich. Wurden sie nach der Klinik in der ambulanten Praxis betreut, sind sie nun mit Krankheit und Therapie allein Zuhause. Die Kontrolle der Nebenwirkungen ist gerade bei onkologischer Therapie sehr wichtig, aber sie wird erschwert, wenn sich der Patient nur alle vier Wochen ein neues Tablettenrezept abholt. Persönliche Bindungen an Ärzte und onkologische Pflegekräfte gehen verloren, die Patienten vereinsamen. Die Rolle des Krebskranken verändert sich.

Die Therapietreue bei oraler Medikation ist problematisch. Das gilt auch für andere Krankheiten wie Diabetes und HIV.

Hier müssen neue Formen des Arzt-Patient-Verhältnis gefunden werden. Intensive regelmäßige Gespräche sind nötig, die aber auch entsprechend vergütet werden müssen. Der Arzt muss mit dem Patienten und seinen Angehörigen besprechen, ob in dem persönlichen Fall die orale oder subkutane Applikation gut ist. Das ist wahrscheinlich bei jungen, berufstätigen und gut organisierten Patienten der Fall. Aber auch hier braucht es eine im regelmäßigen Arztgespräch erfolgte Kontrolle der Nebenwirkungen. Für andere Patienten, die älter sind und die es aus verschiedenen Gründen mit der Therapietreue nicht so genau nehmen, empfiehlt sich auch weiterhin der regelmäßige Gang zur Infusion. Die Infusion gibt die Möglichkeit, den Kranken besser zu begleiten.

Leider empfinden manche Menschen orale Chemotherapie als Medikament light. Das kann sowohl bei Patienten als auch bei Ärzten der Fall sein. Das ist meist Unsinn, weil die Mittel ja in Klinischen Studien erprobt sind und die gleiche Wirkung haben müssen.

Orale onkologische Medikamente machen neue Strukturen erforderlich, damit der Patient nicht nur alle drei Monate sein Rezept abholt und mit der Krankheit und möglichen Therapiefolgen allein bleibt. Neue Wahlmöglichkeiten bei gleichwertigen Therapieoptionen erfordern viel Beratung. Solche Gespräche müssen honoriert werden.

Krebs und psychische Verfassung

Die Auswirkungen einer Krebserkrankung auf die Psyche und das Wohlbefinden der Menschen sind so unterschiedlich wie die Menschen selbst. So berichtet eine Psychoonkologin, dass zwei Männer auf eine Kehlkopfentfernung aufgrund von Krebs völlig gegensätzlich reagiert haben: Der eine hatte unüberhörbare Selbstmordgedanken, der andere war zufrieden und sprach von „… noch mal Glück gehabt“.

Psychoonkolgische Hilfe ist vor allem dort erforderlich, wo beim Patienten bereits entsprechende Vorbelastungen bestehen. Angsterkrankungen und Depressionen sind sehr typische Begleitkrankheiten (Komorbiditäten), die auch vorher schon vorlagen und nun noch deutlicher zutage treten. Jetzt gibt es ja einen „Grund“. Diese Komorbiditäten haben auch indirekte Folgen. Patienten mit nicht behandelten Depressionen werden eher frühverrentet. Sie sind dreimal häufiger nicht therapietreu. Ihre Überlebenszeiten sind schlechter.

Einen schwachen Hinweis gibt es darauf, dass Depressivität auch mit bestimmten Krebsarten einhergeht. Zu solchen stärker angstbesetzten Krebserkrankungen gehören Lungenkrebs und Kopf-Hals-Tumoren. Das ist verständlich, weil deren Prognose eher schlecht ist. Auch wenn ein Krebs fortschreitet, also metastasiert, d. h. nicht mehr heilbar ist, steigt die Anfälligkeit für Angst und Depressionen.

Brustkrebspatientinnen mit psychischen Komorbiditäten kommen besser zurecht, wenn sie sich von ihrem Arzt unterstützt fühlen. Das alles spricht für eine psychoonkologische Versorgung – sicher längst nicht für jeden Patienten, aber für alle, die Unterstützung und Hilfe brauchen.

Die Zielgruppen werden präziser bestimmt: Stratifizierung

In der molekularen Diagnostik nimmt der wissenschaftliche Fortschritt rapide zu. Die Gene von Tumoren werden sequenziert, und immer öfter fallen spezielle Mutationen auf, die den Krebs ausgelöst und verursacht haben. Die molekulare Biologie ist vor allem beim Lungenkrebs mit bahnbrechenden Erkenntnissen aufgefallen. Genmutationen sind erkannt und es gibt bereits Medikamente dafür.

Auch wenn – um beim Beispiel des Lungenkrebses zu bleiben – die Prognose und damit die Lebenserwartung immer noch eher bescheiden ausfällt, so können doch mit den neuen zielgerichteten Medikamenten viele Patienten deutlich länger überleben. Die sog. „personalisierte“ Medizin kommt in Schwung. Nicht ein Medikament wird mit meist dürftigem Erfolg bei allen eingesetzt, sondern das zur gefundenen Genmutation passende Mittel wird zielgerichtet den Patienten aus genau dieser Gruppe gegeben. Die Aufteilung der Patienten nach der gemeinsamen Genmutation nennt man Stratifizierung.

Es wird noch dauern, bis alle Genveränderungen gefunden und entschlüsselt sind. Auch müssen die entsprechenden Tests und die darauf zuzuschneidenden Medikamente entwickelt werden. Aber die Anfänge sind außerordentlich vielversprechend. Und weil die Molekularbiologie und die Onkologie so innovativ sind, steigen die Kosten deutlich an.