Lieber Jakob

Mit dieser Anrede beginnt das erste Kapitel des gleichnamigen Briefromans von Martin Hecht. Schon die Unterzeile des Titels verrät, dass die Lektüre keine leichte Kost sein wird und es kein Happy End gibt: „Brief an meinen Sohn über das Leben und Sterben seiner Mutter“. 

Wie spricht man mit einem Jungen, der gerade vor der Einschulung steht  darüber, dass die Mutter lebensbedrohlich erkrankt ist und vielleicht sterben muss? Auf diese Frage finden die Eltern, Gabriele und Martin, zunächst keine Antwort. Sie wollen der traurigen Geschichte, wie es im Buch heißt, die eigentlich schon im März 2005 begann, keinen allzu großen Raum in ihrem Leben lassen. Doch im Oktober 2007 lässt sich Gabrieles Erkrankung – die Fernsehjournalistin ist im Alter von 42 Jahren an Brustkrebs erkrankt – nicht mehr vor die Tür schicken. Sie bestimmt von nun an das Leben der bis dahin kleinen, glücklichen Familie, wird zum mehr und mehr bestimmenden Element im Alltag, das alles verändert.

Nun, als der Krebs zurückkehrt, entschließt sich  Martin Hecht dazu, ein Tagebuch zu beginnen. Er schreibt es in Briefform an seinen Sohn Jakob, dem die Eltern eigentlich die schlimme Wahrheit ersparen und eine möglichst unbeschwerte Kindheit ohne Angst bewahren möchten. Das Tagebuch beginnt am 29. Oktober 2007 und endet am 26. Juni 2010, genau ein Jahr nach dem Tod von Gabriele. Eindringlich und einfühlsam beschreibt Martin Hecht die Stationen der Krebserkrankung seiner Frau.

Gabriele will leben und stemmt sich gegen die Endgültigkeit der Diagnose. Sie unterzieht sich erneut einer belastenden Chemotherapie, versucht, den Alltag so normal wie möglich zu leben, verheimlicht ihrer Umgebung die erneue Diagnose. Auch die familiären Rituale – Reisen, Erholungsurlaube, ausführliches Shoppen, gutes Essen, gemeinsame Spaziergänge – behält die Familie bei. Und wie die Ironie des Schicksals es will, bekommt Gabriele nach dem Rückfall unerwartet endlich ihre Traumstelle als Schlussredakteurin beim Kultursender 3Sat, nachdem sie, wie ihr Mann es beschreibt, viele Jahre den Neid und die Missgunst von Kollegen beim ZDF ertragen musste.

Schonungslos und mit kritischem Blick auf Medizinbetrieb und Krankenhausalltag beschreibt Martin Hecht in den Tagebuchbriefen an Jakob den körperlichen Verfall und die seelischen Belastungen seiner Frau, die er über alles liebt und deren Leiden er kaum mit anzusehen vermag. Im Endstadium der Erkrankung – deren Bezeichnung sich im Buch von „der Erkrankung“ zu „Brustkrebs“ und schließlich zu „Krebs“ verändert – ist Gabrieles Körper mit Metastasen in Leber, Lunge und Knochen durchsetzt. Sie leidet unter schrecklichen Schmerzen. Ein Verbleiben zuhause ist  kaum  mehr möglich.Immer wieder wird Gabriele ins Krankenhaus eingeliefert.  Aber auch in dieser Zeit gibt es noch hoffnungsvolle Momente.

Nachdem eine orale Chemotherapie keine Besserung bringt, scheint eine antihormonelle Behandlung anzuschlagen. Sie gibt der Familie Zeit, um ein halbes Jahr vor dem Tod der Mutter noch einmal in die Berge zu fahren und die Orte zu besuchen, an denen man gemeinsam glücklich war. Gabrieles Tod, obwohl erwartet und auf Grund der medizinischen Prognose absehbar, kommt dann im Juni 2009 doch plötzlich. Martin bleibt keine Zeit, seiner Frau noch zu versichern, wie wichtig sie für sein Leben ist, wie sehr sie ihn zu dem gemacht hat, was er ist, wie sie sein Leben bereichert und wie sehr er sie geliebt hat. Dieser letzte Liebesbeweis bleibt unausgesprochen, vielleicht weil Gabriele sich diesem Gespräch bewusst entzieht, hofft sie doch bis zum Ende, leben zu dürfen.

Wie der Vater in seinem Tagebuch bemerkt, bleibt Jakob – trotz dieser Belastungssituation –  ein glückliches Kind. Vielleicht auch deshalb, weil es den Eltern gelingt, möglichst viel Normalität zu erhalten. Weihnachten, Silvester und auch die Geburtstage feiern die Drei gemeinsam. Jakobs Kinderalltag mit Gangfußball, Kindergarten, Schule, musikalischer Früherziehung, Kinonachmittagen, Besuchen bei Freunden, Vorlesen, gemeinsamen Unternehmungen und Kuscheln im elterlichen Bett bleibt auch angesichts von Gabrieles Erkrankung erhalten. Die Krankheit der Mutter scheint zu einer Normalität in Jakobs Leben geworden zu sein. Sehr einfühlsam geht er auf seine Mutter zu, hat keine Berührungsängste vor einer Frau, die plötzlich ohne Haare oder mit Perücke ganz verändert aussieht, kurzatmig ist und viel Zeit im Bett verbringen muss. Gleichzeitig weiß der Sechsjährige aber intuitiv, dass seine Mutter schwer krank ist. Seine unbewussten Ängste machen sich oft in Alpträumen Luft, die der Vater in seinem Tagebuch beschreibt. Natürlich merkt Jakob auch, dass sein Vater immer stärker die Rolle und Funktionen der Mutter übernehmen muss. Und die ganze Familie weiß zumindest unbewusst, bevor Martin Hecht es später im Tagebuch ausspricht: Nichts ist mehr so wie es war und nichts wird wieder so sein.

Die ganze Tragweite der emotionalen Belastung, die Gabrieles Krebserkrankung für die Familie mit sich bringt, wird Martin Hecht erst in der Rückschau während des Trauerjahres klar. Der Abschied von Gabriele, an die noch alles -nicht nur in der Wohnung- erinnert,  ist ein endgültiger, der Schmerz und die Trauer um den Verlust der geliebten Frau lassen sich auch nicht durch Besuche an den „gemeinsamen Orten“ verringern. „Nie mehr wird es eine Dreier-Umarmung geben, ...nie mehr ein Dreier-Küsschen. Aber auch nie mehr eine Zweier-Umarmung mit Gabi für mich und auch kein Zweier-Küsschen mehr mit ihr. Weder für Dich noch für mich.“ Sein Lebensgefühl während dieser Zeit beschreibt Martin Hecht so: „An mir läuft das Spiel vorbei, aber gründlich.“

Alles: Geburtstage, Weihnachten, der Jahreswechsel steht unter der Tragik: Heute vor einem Jahr waren wir zu dritt, haben wir gemeinsam dies und das unternommen. Mit großer Liebe, Zärtlichkeit und Hochachtung beschreibt der Vater im Tagebuch für den Sohn die Einzigartigkeit der Mutter und berichtet in Rückblenden aus dem gemeinsamen Leben:Im enger werdenden Vertrauensverhältnis zwischen Vater und Sohn berichtet Jakob auch über seine Ängste. So fürchtet er, nach der Mutter auch den Vater verlieren zu können. Eine sehr reale Angst, die der Vater auch durch die Zusicherung, sicherlich nicht so bald zu sterben, zu entkräften sucht  - wohl wissend, dass es in dieser Hinsicht keine wirkliche Sicherheit geben kann. In den Tagen vor Weihnachten 2009 – dem ersten Weihnachten ohne die Mutter - sprechen beide über Mut und Angst. Auf die Frage des Vaters: Wann hast Du eigentlich am meisten Mut gebraucht? antwortet Jakob, für Martin Hecht unerwartet: „Als die Mama gestorben ist.“ Dann sagt er, welcher Moment ihm noch viel Mut abverlangt habe – der Augenblick, an dem er die Türklinke zum Krankenzimmer auf der Palliativstation heruntergedrückt habe, weil er ja nicht gewusst habe, wie die tote Mama sei. Und es hätte viel Mut gebraucht, die tote Mama anzusehen.

Zum Ende seines Buches, das den Leser von Anfang an fesselt und das man trotz des schwierigen Themas nicht aus der Hand legen möchte, ist Martin Hecht klar: Sein Brieftagebuch soll nicht nur die Erinnerung an die Mutter für Jakob wach halten. Es ist zugleich Selbstreflexion und literarische Verarbeitung eigener Gefühle und damit seine ganz persönliche Art der Trauerbewältigung.  Der „Brief an Jakob“ ist ein Krebsbuch ganz anderer Art – geschrieben aus der Perspektive der Verlassenen, die mit dem Tod des geliebten Menschen zurecht kommen müssen. Es ist ein ehrliches, mutiges und sehr persönliches Buch, verfasst von einem Mann, der sicherlich als Publizist seine Gedanken und Gefühle besser als manch anderer in Worte fassen kann. Die Veröffentlichung des Tagebuchs, vor der der Autor zunächst zurückschreckte, weil er seine Familiengeschichte nicht ohne weiteres der Öffentlichkeit preis geben wollte, ist ein Glücksfall. Denn die Geschichte von Gabriele, Martin und Jakob kann auch anderen Wertvolles mitteilen und Verständnis und Mitgefühl für diejenigen erzeugen, die in ähnlicher oder gleicher Lage sind. Auch ohne Happy -End besticht das Buch durch seine positive Grundhaltung: Aus Liebe entsteht Trauer, aus Trauer entsteht Liebe – dieses Motto, das der Autor dem Buch voranstellt, wird in den Briefen an Jakob auf eindrucksvolle Weise lebendig. Empfehlung: unbedingt lesenswert! (akk)

Martin Hecht: Lieber Jakob, Brief an meinen Sohn über das Leben und Sterben seiner Mutter, DVA, 2010, ISBNB 978-3-421-044785,317 Seiten Preis: 19,99 €