Lieber Jakob

Mit dieser Anrede beginnt das erste Kapitel des gleichnamigen Briefromans von Martin Hecht. Schon die Unterzeile des Titels verrät, dass die Lektüre keine leichte Kost sein wird und es kein Happy End gibt: „Brief an meinen Sohn über das Leben und Sterben seiner Mutter“. 

Wie spricht man mit einem Jungen, der gerade vor der Einschulung steht  darüber, dass die Mutter lebensbedrohlich erkrankt ist und vielleicht sterben muss? Auf diese Frage finden die Eltern, Gabriele und Martin, zunächst keine Antwort. Sie wollen der traurigen Geschichte, wie es im Buch heißt, die eigentlich schon im März 2005 begann, keinen allzu großen Raum in ihrem Leben lassen. Doch im Oktober 2007 lässt sich Gabrieles Erkrankung – die Fernsehjournalistin ist im Alter von 42 Jahren an Brustkrebs erkrankt – nicht mehr vor die Tür schicken. Sie bestimmt von nun an das Leben der bis dahin kleinen, glücklichen Familie, wird zum mehr und mehr bestimmenden Element im Alltag, das alles verändert.

Nun, als der Krebs zurückkehrt, entschließt sich  Martin Hecht dazu, ein Tagebuch zu beginnen. Er schreibt es in Briefform an seinen Sohn Jakob, dem die Eltern eigentlich die schlimme Wahrheit ersparen und eine möglichst unbeschwerte Kindheit ohne Angst bewahren möchten. Das Tagebuch beginnt am 29. Oktober 2007 und endet am 26. Juni 2010, genau ein Jahr nach dem Tod von Gabriele. Eindringlich und einfühlsam beschreibt Martin Hecht die Stationen der Krebserkrankung seiner Frau.

Gabriele will leben und stemmt sich gegen die Endgültigkeit der Diagnose. Sie unterzieht sich erneut einer belastenden Chemotherapie, versucht, den Alltag so normal wie möglich zu leben, verheimlicht ihrer Umgebung die erneue Diagnose. Auch die familiären Rituale – Reisen, Erholungsurlaube, ausführliches Shoppen, gutes Essen, gemeinsame Spaziergänge – behält die Familie bei. Und wie die Ironie des Schicksals es will, bekommt Gabriele nach dem Rückfall unerwartet endlich ihre Traumstelle als Schlussredakteurin beim Kultursender 3Sat, nachdem sie, wie ihr Mann es beschreibt, viele Jahre den Neid und die Missgunst von Kollegen beim ZDF ertragen musste.

Schonungslos und mit kritischem Blick auf Medizinbetrieb und Krankenhausalltag beschreibt Martin Hecht in den Tagebuchbriefen an Jakob den körperlichen Verfall und die seelischen Belastungen seiner Frau, die er über alles liebt und deren Leiden er kaum mit anzusehen vermag. Im Endstadium der Erkrankung – deren Bezeichnung sich im Buch von „der Erkrankung“ zu „Brustkrebs“ und schließlich zu „Krebs“ verändert – ist Gabrieles Körper mit Metastasen in Leber, Lunge und Knochen durchsetzt. Sie leidet unter schrecklichen Schmerzen. Ein Verbleiben zuhause ist  kaum  mehr möglich.Immer wieder wird Gabriele ins Krankenhaus eingeliefert.  Aber auch in dieser Zeit gibt es noch hoffnungsvolle Momente.

Nachdem eine orale Chemotherapie keine Besserung bringt, scheint eine antihormonelle Behandlung anzuschlagen. Sie gibt der Familie Zeit, um ein halbes Jahr vor dem Tod der Mutter noch einmal in die Berge zu fahren und die Orte zu besuchen, an denen man gemeinsam glücklich war. Gabrieles Tod, obwohl erwartet und auf Grund der medizinischen Prognose absehbar, kommt dann im Juni 2009 doch plötzlich. Martin bleibt keine Zeit, seiner Frau noch zu versichern, wie wichtig sie für sein Leben ist, wie sehr sie ihn zu dem gemacht hat, was er ist, wie sie sein Leben bereichert und wie sehr er sie geliebt hat. Dieser letzte Liebesbeweis bleibt unausgesprochen, vielleicht weil Gabriele sich diesem Gespräch bewusst entzieht, hofft sie doch bis zum Ende, leben zu dürfen.

Wie der Vater in seinem Tagebuch bemerkt, bleibt Jakob – trotz dieser Belastungssituation –  ein glückliches Kind. Vielleicht auch deshalb, weil es den Eltern gelingt, möglichst viel Normalität zu erhalten. Weihnachten, Silvester und auch die Geburtstage feiern die Drei gemeinsam. Jakobs Kinderalltag mit Gangfußball, Kindergarten, Schule, musikalischer Früherziehung, Kinonachmittagen, Besuchen bei Freunden, Vorlesen, gemeinsamen Unternehmungen und Kuscheln im elterlichen Bett bleibt auch angesichts von Gabrieles Erkrankung erhalten. Die Krankheit der Mutter scheint zu einer Normalität in Jakobs Leben geworden zu sein. Sehr einfühlsam geht er auf seine Mutter zu, hat keine Berührungsängste vor einer Frau, die plötzlich ohne Haare oder mit Perücke ganz verändert aussieht, kurzatmig ist und viel Zeit im Bett verbringen muss. Gleichzeitig weiß der Sechsjährige aber intuitiv, dass seine Mutter schwer krank ist. Seine unbewussten Ängste machen sich oft in Alpträumen Luft, die der Vater in seinem Tagebuch beschreibt. Natürlich merkt Jakob auch, dass sein Vater immer stärker die Rolle und Funktionen der Mutter übernehmen muss. Und die ganze Familie weiß zumindest unbewusst, bevor Martin Hecht es später im Tagebuch ausspricht: Nichts ist mehr so wie es war und nichts wird wieder so sein.

Die ganze Tragweite der emotionalen Belastung, die Gabrieles Krebserkrankung für die Familie mit sich bringt, wird Martin Hecht erst in der Rückschau während des Trauerjahres klar. Der Abschied von Gabriele, an die noch alles -nicht nur in der Wohnung- erinnert,  ist ein endgültiger, der Schmerz und die Trauer um den Verlust der geliebten Frau lassen sich auch nicht durch Besuche an den „gemeinsamen Orten“ verringern. „Nie mehr wird es eine Dreier-Umarmung geben, ...nie mehr ein Dreier-Küsschen. Aber auch nie mehr eine Zweier-Umarmung mit Gabi für mich und auch kein Zweier-Küsschen mehr mit ihr. Weder für Dich noch für mich.“ Sein Lebensgefühl während dieser Zeit beschreibt Martin Hecht so: „An mir läuft das Spiel vorbei, aber gründlich.“

Alles: Geburtstage, Weihnachten, der Jahreswechsel steht unter der Tragik: Heute vor einem Jahr waren wir zu dritt, haben wir gemeinsam dies und das unternommen. Mit großer Liebe, Zärtlichkeit und Hochachtung beschreibt der Vater im Tagebuch für den Sohn die Einzigartigkeit der Mutter und berichtet in Rückblenden aus dem gemeinsamen Leben:Im enger werdenden Vertrauensverhältnis zwischen Vater und Sohn berichtet Jakob auch über seine Ängste. So fürchtet er, nach der Mutter auch den Vater verlieren zu können. Eine sehr reale Angst, die der Vater auch durch die Zusicherung, sicherlich nicht so bald zu sterben, zu entkräften sucht  - wohl wissend, dass es in dieser Hinsicht keine wirkliche Sicherheit geben kann. In den Tagen vor Weihnachten 2009 – dem ersten Weihnachten ohne die Mutter - sprechen beide über Mut und Angst. Auf die Frage des Vaters: Wann hast Du eigentlich am meisten Mut gebraucht? antwortet Jakob, für Martin Hecht unerwartet: „Als die Mama gestorben ist.“ Dann sagt er, welcher Moment ihm noch viel Mut abverlangt habe – der Augenblick, an dem er die Türklinke zum Krankenzimmer auf der Palliativstation heruntergedrückt habe, weil er ja nicht gewusst habe, wie die tote Mama sei. Und es hätte viel Mut gebraucht, die tote Mama anzusehen.

Zum Ende seines Buches, das den Leser von Anfang an fesselt und das man trotz des schwierigen Themas nicht aus der Hand legen möchte, ist Martin Hecht klar: Sein Brieftagebuch soll nicht nur die Erinnerung an die Mutter für Jakob wach halten. Es ist zugleich Selbstreflexion und literarische Verarbeitung eigener Gefühle und damit seine ganz persönliche Art der Trauerbewältigung.  Der „Brief an Jakob“ ist ein Krebsbuch ganz anderer Art – geschrieben aus der Perspektive der Verlassenen, die mit dem Tod des geliebten Menschen zurecht kommen müssen. Es ist ein ehrliches, mutiges und sehr persönliches Buch, verfasst von einem Mann, der sicherlich als Publizist seine Gedanken und Gefühle besser als manch anderer in Worte fassen kann. Die Veröffentlichung des Tagebuchs, vor der der Autor zunächst zurückschreckte, weil er seine Familiengeschichte nicht ohne weiteres der Öffentlichkeit preis geben wollte, ist ein Glücksfall. Denn die Geschichte von Gabriele, Martin und Jakob kann auch anderen Wertvolles mitteilen und Verständnis und Mitgefühl für diejenigen erzeugen, die in ähnlicher oder gleicher Lage sind. Auch ohne Happy -End besticht das Buch durch seine positive Grundhaltung: Aus Liebe entsteht Trauer, aus Trauer entsteht Liebe – dieses Motto, das der Autor dem Buch voranstellt, wird in den Briefen an Jakob auf eindrucksvolle Weise lebendig. Empfehlung: unbedingt lesenswert! (akk)

Martin Hecht: Lieber Jakob, Brief an meinen Sohn über das Leben und Sterben seiner Mutter, DVA, 2010, ISBNB 978-3-421-044785,317 Seiten Preis: 19,99 €

Patient in Deutschland

Rezension von Annette Kruse-Keirath

Selbst Insider wie Ärzte und Gesundheitspolitiker verstehen die Gesundheitspolitik in Deutschland kaum mehr und können im Dickicht der sich ständig wandelnden Gesetze, Bestimmungen, Leitlinienund sonstigen Vorschriften kaum mehr den Überblick behalten. Wie sollen da Patientinnen und Patienten, die vom politischen Regulierungswahn Betroffenen, die medizinische Welt verstehen?

Da lehnt ein Arzt zum Beispiel mit Hinweis auf sein Heilmittelbudget nach einer Brust-OP eine medizinisch-notwendige Lymphdrainage ab. Eine andere Patientin wundert sich darüber, dass sie plötzlich in der Apotheke immer anders aussehende Medikamente statt des bisher verordneten Präparates erhält (diese sind nach Auskunft des Apothekers genauso gut, nur preisgünstiger), weil ihre Krankenkasse mit bestimmten Pharmaherstellern einen Rabattvertrag abgeschlossen hat. Andere werden mit „motivierenden Anrufen“ ihrer Krankenkasse bombardiert, doch am DMP Mamma-Ca teilzunehmen, weil durch dieses „qualitätsgesicherte und leitlinienorientierte Nach-sorgeprogramm“ die beste Betreuung für die Patientin sichergestellt sei. Was die Krankenkasse verschweigt: Nicht die Patientin, die im besten Fall 40 € pro Jahr für die Praxisgebühr spart, ansonsten aber keine weiteren medizinischen Vorteile erhält, sondern die Krankenkasse selbst profitiert am meisten von der DMP-Einschreibung. Denn aus dem Risikostrukturausgleich fließen mit der Einschreibung gleich 7.500 € auf das Konto der Krankenkasse. Und diese Mittel werden – das ist der eigentliche Skandal – keineswegs für eine verbesserte Therapie der Brustkrebs-patientin verwendet, sondern helfen, die Finanzlöcher der Krankenkassen zu stopfen.

Anhand dieser und ähnlicher Beispiele aus allen Bereichen des Gesundheitswesens zeigt Gaby Guzek in ihrem gerade erschienen Buch: „Patient in Deutschland – verraten und verkauft“, nach welchen Regeln Gesundheitswesen und Patientenversorgung in Deutschland überorganisiert und verbürokratisiert sind und deshalb eben häufig nicht funktionieren. Gesundheit nach Kassenlage – so lautet das ernüchternde Resümee der Autorin zur derzeitigen Situation im Gesund-heitswesen. Dabei werden nicht nur die patientenfeindlichen Strukturen und die heute schon stattfindenden verdeckten Rationierungen, sondern auch die ständig zunehmende Entmündigung und Bevormundung der Menschen durch selbst ernannte Beschützer eindringlich dargestellt.

In 14 Kapiteln erläutert die Medizinjournalistin auf 160 Seiten in gut lesbarer und auch für Laien verständlicher Sprache den ganz alltäglichen Wahnsinn im Gesundheits- und Pflegewesen. Kenntnis- und detaillreich schildert die Autorin auch  Finanzierungsstruktur und Ausgabepolitik der Krankenkassen. Diese – so die entlarvende Bilanz  –  dient eher der Gewinnung vom Markt-anteilen im Vorgriff auf den neuen Gesundheitsfonds als einer guten Versorgung – insbesondere wirklich kranker Patienten. Wellnessreisen und Reha-Sport, mit denen sich junge Versicherte gewinnen lassen, werden deshalb lieber von den Krankenkassen finanziert als Verordnungen für Krankengymnastik, Ergotherapie und Logopädie oder ein innovatives, aber teures Medikament für Schwerkranke.

Ein Extrakapitel widmet sich auch den Arbeitsbedingungen und der Honorierung von Ärztinnen und Ärzten. Schnell wird klar: Niedergelassene Ärzte sind ebenso wie Krankenhäuser und Pflegedienste Teil und Instrument einer von der Autorin als perfide charakterisierten Ratio-nierungspolitik von Gesetzgeber und Krankenkassen. Sie spüren die Auswirkungen der Sparpolitik ebenso wie die Patienten. Wobei die Politik den Ärzten den schwarzen Peter zuschiebt, die unerfreulichen Rationierungswahrheiten im Sprechzimmer „zu verkaufen“ – mit der Konsequenz des zunehmenden Image- und Vertrauensverlustes des ärztlichen Berufsstandes.

Am Schluss des Buches (dem man vielleicht die etwas zu arztorientierte Perspektive ankreiden kann und von Seiten des Verlags eine etwas liebevollere Lektoratsbetreuung besonders bei Orthographie, Grammatik und Zeichensetzung gewünscht hätte) stellt Gaby Guzek unter der Überschrift: „Was tun?“ die Frage nach den Zukunftsperspektiven des Gesundheitswesens. Ihre Antwort: „Das System ist nicht reformierbar. Wir brauchen einen Neustart.“ Diese sollte nach ihrer Auffassung bei der Wahlfreiheit des Patienten und der Rückbesinnung auf den Ursprung jeder Arzt-Patientenbeziehung beginnen: „Ich will zu dem Arzt gehen können, dem ich vertraue und will mit ihm zusammen meine gute und richtige Behandlung finden“. Ein Wunsch, dem die von der Politik so gefürchteten mündigen Patientinnen und Patienten nur zustimmen können. Ebenso wie der Aufforderung der Autorin: „Wir müssen anfangen nachzudenken. Und: Wir müssen handeln“ und uns nicht mehr nur behandeln und zum Objekt von Gesundheitsinteressen anderer degradieren lassen.

Gaby Guzek: Patient in Deutschland - verraten und verkauft. Promedico Verlag Hamburg, 14,80 Euro. ISBN 978-3-932516-16-0

Sehen wir uns morgen?

Sehen wir uns morgen? - von Alice Kuipers

 Rezension von Annette Kruse-Keirath
Ein Jugendroman, der sich mit dem Thema „Brustkrebs“ befasst -  keine zwangsläufige Verbindung! In der Tat: Die Autorin Alice Kuipers hat ein ganz ungewöhnliches Buch vorgelegt – in Inhalt und Form: Eine sensible Mutter-Tochter-Geschichte – aufgeschrieben auf kleinen Notizzetteln, die beide an den Kühlschrank heften.
Die Tochter, Claire, ist ein ganz normaler Teenager –  unbeschwert  - mit den üblichen Pubertäts- und Schulproblemen. Die Mutter – eine Hebamme, ist häufig nachts im Einsatz und selten zuhause.  Da beide ständig unterwegs sind, tauschen sie oft nur auf den kleinen Kühlschrankzetteln wichtige Nachrichten aus: Einkaufslisten, Schulnoten, Berichte aus der Klinik.
Ganz beiläufig erwähnt die Mutter einen Routinebesuch beim Arzt. Claire ist beunruhigt, denn ihre Mutter ist keine „Arztgängerin“. Aus der bösen Vorahnung – ein harmloser Knoten - wird schnell Gewissheit: Claires Mutter hat Brustkrebs. Damit gerät Claires Welt aus den Fugen.
Die Zettel-Kommunikation berichtet von der Sprachlosigkeit der Mutter und der Unsicherheit und Wut der Tochter, die das „Schutzschweigen“ der Mutter ertragen kann und verzweifelt nach Antworten sucht. Sie zeigt aber auch, wie die Beziehung zwischen beiden intensiver, sensibler und menschlich reifer wird. Claire wird während der Therapie der Mutter plötzlich erwachsen. Sie lernt, einfühlsam auf die Bedürfnisse ihrer Mutter einzugehen, und übernimmt Verantwortung für sich selbst.
Für Mutter wie Tochter wird das Durchleben der Erkrankung zu einer wichtigen, Erfahrung, an der sie gemeinsam wachsen. Die kranke Mutter wird zum Vorbild für Claire, die auf einen Kühlschrankzettel schreibt: „Ich kann versuchen zu vergessen, wie schwer es am Ende für dich war; aber ich werde niemals vergessen, wie stark und mutig du gewesen bist,  Mama. ..Ich wünschte, ich hätte mehr Zeit mit Dir gehabt. Aber ich bin dankbar für die Zeit die wir hatten.“
Alice Kuiper’s Buch ist keine „Krebsgeschichte“. Es ist ein Plädoyer dafür, sich nicht erst dann, wenn eine Krankheit Zeit kostbar werden lässt, Zeit füreinander zu nehmen und gemeinsam zu leben. Urteil: Lesenswert – nicht nur für Jugendliche! (Annette Kruse-Keirath)


Alice Kuipers: Sehen wir uns morgen, Krüger Verlag, Frankfurt 2007
ISBN 978-3-8105-1063-1, Taschenbuch: 7,95 €

 

 

 

Das Anti-Krebs Buch

Rezension von Annette Bopp

Wieder ließ sich Servan-Schreiber operieren und unterzog sich zusätzlich einer einjährigen Chemotherapie. Der Schock des Rückfalls jedoch wird für den Autor des 2003 erschienenen Bestsellers „Die neue Medizin der Emotionen“ zum Anlass, sich der Frage „Was kann ich selbst für mich tun?“ neu und anders zu stellen. Denn, so sagt er sich: „Es wäre völlig unvernünftig, ausschließlich auf den rein technischen Ansatz zu vertrauen und die natürliche Fähigkeit unseres Körpers außer Acht zu lassen, sich vor Tumoren zu schützen.“ So weiterleben wie bisher erscheint ihm jetzt fatal – hat doch gerade dieses Leben mit dazu beigetragen, dass sich die Geschwulst von neuem bilden konnte.

Und so beginnt er, sich genauer mit der Frage auseinanderzusetzen, warum die Krebserkrankungen seit rund 1940 stetig zunehmen – und dies nicht nur, weil die Menschen älter werden: Zwischen 1975 und 1994, so belegt Servan-Schreiber, ist die Krebsrate in den USA bei Frauen unter 45 Jahren um 1,6 Prozent pro Jahr gestiegen, bei Männern sogar um 1,8 Prozent. Er zitiert Daten der Weltgesundheitsorganisation WHO, die eine besonders starke Zunahme der Krebserkrankungen bei Kindern und Jugendlichen seit 1970 nachweisen. Die Statistiken der WHO zeigen des Weiteren, dass Brust-, Prostata- und Darmkrebs bei Menschen aus den gleichen Altersgruppen in den USA und Nordeuropa neun Mal häufiger auftreten als in China, Laos und Korea und vier Mal häufiger als in Japan. Er macht darauf aufmerksam, dass die Brustkrebsrate bei Asiatinnen sprunghaft ansteigt, sobald sie in westlich orientierten Großstädten wie San Francisco oder Hongkong leben.

Hat diese „Krebsepidemie“ also mit der seit dem zweiten Weltkrieg deutlich gestiegenen Umweltverschmutzung, vor allem aber mit dem westlichen Lebensstil zu tun? Was veranlasst so einen Tumor zum Wachsen? Warum ist es Servan-Schreibers eigenem Körper nicht gelungen, die Krebszellen in Schach zu halten? Und was ist zu tun, damit er nicht binnen kurzem erneut mit einem Rückfall konfrontiert wird?

Auf der Suche nach den Antworten nutzt der Neurologe sein Knowhow als Wissenschaftler: er surft in Datenbanken, durchforstet Fachzeitschriften, besucht Kongresse und überprüft jede Hypothese, die ihm begegnet. Das Ergebnis seiner Recherchen sowie wissenschaftliche Erkenntnisse aus jüngster Vergangenheit trägt Servan-Schreiber – durchflochten von seiner persönlichen Krankheitsgeschichte, die er erstmals öffentlich macht – auf 352 Seiten in einem Buch zusammen: „Das Anti-Krebs-Buch“ (Kunstmann Verlag 2008). Jede Aussage, jede Studie ist minutiös dokumentiert und belegt; die Bibliographie im Anhang umfasst 388 Quellenangaben und nimmt im Buch 26 Seiten ein – eine für ein allgemeinverständliches Sachbuch außergewöhnliche Detailversessenheit.

Der Autor hat dafür seine Gründe: Es geht ihm um Glaubwürdigkeit, Anerkennung, Beweise. Denn er ist überzeugt: „Es handelt sich hier um einen Durchbruch in der Krebstherapie.“ Dieser Durchbruch besteht für ihn in vier Ansätzen, die dem Krebs entgegenwirken sollen: Sich vor Schadstoffen aus der Umwelt schützen.Die Ernährung so umstellen, dass Lebensmittel, die das Krebswachstum anheizen können, verringert und solche, die es bremsen können, bevorzugt werden. Seelische Wunden, die die biologischen Mechanismen bei der Krebsentstehung aktivieren können, heilen. Das Immunsystem anregen und krebsfördernde Entzündungsprozesse eindämmen.

Das klingt relativ trivial und ist in dieser Art noch nichts Neues. Das Besondere an diesem Buch ist, dass es erstmals eine Fülle von Belegen zusammenträgt, dass all diese Maßnahmen eine wissenschaftliche Basis haben und nicht auf Treu und Glauben beruhen. Auch zeigt Servan-Schreiber anschaulich und realitätsnah, wie sich dieses Vier-Punkte-Programm im Alltag umsetzen lässt, mit allen Möglichkeiten und Grenzen. Er nimmt den Leser erzählend an die Hand, drängt nichts auf, stellt lediglich vor, gibt zu bedenken, schildert Studienergebnisse – sachlich, freilassend und uneitel, aber doch mit spürbarem Engagement, und vor allem mit einer entwaffnenden Ehrlichkeit. Servan-Schreiber hält seine eigene Skepsis nicht zurück, die ihn anfangs befallen hat, als er las, dass Kurkuma, grüner Tee und Himbeeren Immunzellen auf Trab bringen sollen. Er gibt seine frühere Elfenbeinturm-Mentalität zu, seine Vorbehalte gegenüber Ernährungsumstellung oder Meditation und spricht damit offen aus, was viele – sicher auch noch bei der Lektüre der ersten Kapitel – denken. Mit dieser Ehrlichkeit (die jedoch nie in peinliche Selbstbezichtigung verfällt), fördert er leise und geschickt die Bereitschaft, sich auf seine Überlegungen einzulassen, ihm in seiner Argumentation zu folgen.

Servan-Schreiber macht Forschungsergebnisse transparent, die normalerweise nur Wissenschaftlern zugänglich und auch verständlich sind. So schildert er beispielsweise, wie 2006 der Nachweis gelingt, dass der Organismus mithilfe aktivierter Immunzellen innerhalb eines halben Tages bis zu 10 Prozent des Körpergewichts an Krebszellen beseitigen kann. Niemand, so sagt er, hätte eine solche Leistung zuvor für möglich gehalten, am allerwenigsten die Immunologen. Die Ressourcen des Körpers und seine Fähigkeit, mit Krankheiten fertig zu werden, unterschätze die Naturwissenschaft immer noch.

Er zeigt Möglichkeiten und Wege zur Aktivierung des Immunsystems auf, die auch ein nicht von Privilegien gesegneter Arbeiter, eine Hausfrau oder eine Sekretärin umsetzen kann: Eine halbe Stunde Spazierengehen reicht, um dem Körper ein Minimum an Bewegung zu verschaffen. Arbeitshetze und Stress lassen sich durch täglich 15 Minuten Meditation, Yoga oder andere Entspannungsübungen abbauen. Das Gefühl ohnmächtiger Hilflosigkeit in Krisensituationen legt sich, indem man darüber spricht und sich Hilfe bei Freunden, Nachbarn oder professionellen Therapeuten sucht. Denn – das zeigen die Beweise aus der Psychoneuroimmunologie – ein ausgeglichenes Seelenleben wirkt sich über Nervenbotenstoffe und vielerlei andere Mechanismen positiv auf die Immunabwehr aus.

Den größten Raum der Beweisführung für die Wirksamkeit seines Vier-Punkte-Programms jedoch widmet Servan-Schreiber dem Einfluss der Ernährung auf das Krebsgeschehen. Fast wie ein Krimi liest sich die Geschichte des Chirurgen Judah Folkman und seiner Annahme, dass Tumore nur dann wachsen können, wenn sie es schaffen, die umgebenden Blutgefäße für ihre Sauerstoff- und Nährstoffversorgung umzufunktionieren und eine Vielzahl neuer Adern sprießen zu lassen. Es dauerte 20 Jahre, bis Folkmans These von der „Angiogenese“ 1994 endlich anerkannt wurde. Heute ist sie eines der wichtigsten Forschungsgebiete in der Onkologie und vor allem auch der Pharmaindustrie, die immer neue Hemmstoffe (sogenannte Neo-Angiogenese-Hemmer) zu synthetisieren versucht. Exakt solche Wirkstoffe existieren jedoch bereits, wie Servan-Schreiber ausführt: in diversen Pilzen (die vorwiegend in der asiatischen Küche verwendet werden), in grünem Tee, Erd- und Himbeeren, Wal-, Hasel- und Pecannüssen. Ätherische Öle und Inhaltsstoffe von Minze, Thymian, Majoran, Oregano, Basilikum und Rosmarin hemmen die Bildung neuer Blutgefäße in Zellkulturen sogar ähnlich wirksam wie der Bestseller unter den modernen Chemotherapeutika, der Neo-Angiogenese-Hemmer Glivec, der seit 2001 vor allem bei chronisch myeloischer Leukämie als Wundermittel gefeiert wird, oder Avastin, der seit kurzem gegen den metastasierten Brustkrebs zugelassen ist.

Andere Lebensmittel wiederum, so weist Servan-Schreiber nach, setzen Entzündungsfaktoren im Körper frei und könnten dadurch wie Dünger für Krebszellen wirken. Es sind dies vor allem Speisen und Getränke, die im Körper einen raschen Insulinanstieg provozieren, also einen hohen „glykämischen Index“ aufweisen (Kartoffelbrei, Cornflakes, Crispies, Weißmehlprodukte, Zucker, Honig, Marmelade, Kompott, Limonaden), aber auch Omega-6-Fettsäuren (etwa aus gehärteten Fetten, Sonnenblumen- und Maisöl) sowie Fleisch, Eier und Milchprodukte aus konventioneller Landwirtschaft mit Massentierhaltung unter Verwendung von Wachstumshormonen. Entzündungshemmend wirken dagegen die sekundären Pflanzenstoffe aus grünem und Kohlgemüse, Kurkuma (insbesondere in Verbindung mit Pfeffer in Curry-Gewürzmischungen), Ingwer, Knoblauch, Zwiebeln sowie Omega-3-Fettsäuren (in Fisch, Oliven- und Leinöl) und Speisen mit niedrigem glykämischem Index (Hülsenfrüchte, Vollkornprodukte, Haferflocken, Müsli, Heidelbeeren, Kirschen, Agavendicksaft als Zuckerersatz, schwarze statt Milchschokolade).

Die westlichen Ernährungsgewohnheiten, so schlussfolgert Servan-Schreiber und beruft sich dabei vor allem auch auf den renommierten Biochemiker Richard Béliveau von der Universität Montreal, begünstigen die Krebsentwicklung maximal. Eine Umstellung auf asiatisch-mediterrane Kost mit Produkten aus biologischem Anbau (die heute bei jedem Discounter im Regal stehen) dagegen, so Servan-Schreiber, ist heute für jeden machbar, und selbst wenn man immer mal wieder aus Kostengründen zu Obst und Gemüse aus konventionellem Anbau greifen müsse, so überwiege die krebsschützende Wirkung die schädliche der Insektizide oder Pestizide allemal.

Vielleicht schafft dieses Buch noch nicht den vom Autor erhofften entscheidenden Durchbruch in der modernen Krebstherapie. Eine Studie nach den „Goldstandards“ der naturwissenschaftlichen Medizin, mit harten Daten für einen Überlebensvorteil bei Krebs durch einen gesunden Lebensstil, gibt es noch nicht (und bisher auch keine Lobby, welche die dafür nötigen Gelder locker macht). Nur: Wenn Krebskranke warten, bis eine solche Studie den finalen Kausalitätsbeweis liefert, sind sie vermutlich schon gestorben. Servan-Schreibers Erfahrungen und das von ihm so eingängig aufbereitete vielfarbige Puzzle aus Wissenschaft und Forschung sind für jeden nachprüfbar und untermauern zumindest eines absolut überzeugend: niemand ist der Krankheit machtlos ausgeliefert. Und so könnte sein Buch die Therapie auf anderem Wege revolutionieren: von unten, von Seiten der Patienten. Es ist eine großartige Motivation, schon jetzt zu handeln. „Was kann ich selbst für mich tun?“ Hier ist die Antwort.

David Servan-Schreiber: Das Anti-Krebs-Buch. Was uns schützt: Vorbeugen und Nachsorgen mit natürlichen Mitteln. 352 Seiten, mit farbigen Abbildungen und 16seitigem Ernährungsplaner, Kunstmann Verlag, München, 24,90 Euro

 

 

 

Aloe, Gingko, Mistel & Co.



Rezension von Annette Kruse-Keirath



Wenn die Verzweiflung groß ist, greift man nach jedem Strohhalm. Mit dieser lapidaren Feststellung tat die „offizielle Medizin“ lange Zeit die sogenannten komplementären Heilverfahren ab und stellte sie in die Ecke von Scharlatanerie und nicht wirklich ernst zu nehmendem Hokuspokus. Doch inzwischen hat sich viel getan in Sachen „Komplementärmedizin“. 73 Prozent der Onkologen in Deutschland befürworten heute komplementärmedizinische Verfahren als Ergänzung zur Schulmedizin. Und nicht nur sie, sondern auch viele Hausärzte möchten auf die Frage: Herr Doktor, was kann ich sonst noch für mich tun? eine kompetente Antwort geben.



Noch fehlen in der Erfahrungsheilkunde vielfach wissenschaftliche Studien. Deshalb sind fundierte Orientierungshilfen wichtig – für Patientinnen wie auch für die behandelnden Ärzte. Ein wichtiges Standardwerk ist hier der Patientenratgeber von Dr. Jutta Hübner, die als Chefärztin einer großen onkologischen Klinik seit vielen Jahren Krebspatienten in der akuten Therapiephase und in der Nachsorge betreut. Ex-perience based statt evidence based – Wissen aus Erfahrung statt aus nachweisbaren Studien –, so lassen sich die Empfehlungen charakterisieren, die Jutta Hübner in ihrem 296seitigen Ratgeber: „Aloe, Mistel, Ginkgo & Co“ zusammengetragen hat. 



Das mit vielen Fotos illustrierte und in einer auch für medizinische Laien verständlichen Sprache geschriebene Buch gibt in alphabethischer Reihenfolge einen Überblick über insgesamt 117 Wirkstoffe, die in der biologischen Krebs-therapie eingesetzt werden. Alle Substanzen – angefangen von Aloe vera bis Zitrusflavonen – werden in Vorkommen und Wirkungsweise vorgestellt. Am Schluss jedes Kapitels findet sich unter dem Stichwort: Was empfiehlt der Arzt? eine kritische Wertung aus Sicht der Schulmedizin.

Dem eigentlichen Ratgeberteil vorangestellt sind Kapitel mit Informationen zur Krebsentstehung, über Chancen und Grenzen einer naturheilkundlichen Begleittherapie und  der Erstattung solcher Medikamente durch die Krankenkassen. Wichtige Hinweise bietet das Buch auch zu den Studien, die notwendig sind, bis ein Medikament für den Markt zugelassen wird.  



Im Kapitel „Ernährung“, das immerhin 14 Seiten umfasst, folgt Jutta Hübner allerdings den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung, die neben der Regel ‚five a day‘ (5 Portionen Obst und Gemüse täglich - drei Hände voll Gemüse und zwei Hände voll  Obst) ), immer noch den Verzicht auf Fett und eine kohlenhydratreiche Ernährung propagiert. Hier hätte man sich den Hinweis auf vielversprechende neuere Forschungsansätze gewünscht, die eine Er-nährungsumstellung auf drei Mahlzeiten täglich mit Reduzierung  kurzkettiger Kohlenhydrate (Weißmehlprodukte, Kartoffeln, Nudeln, Reis) und einem höheren Anteil an Eiweiß und Gemüse favorisieren. Und zwar nicht nur, um Übergewicht zu vermeiden, sondern auch, um den Zuckerstoffwechsel in den Zellen günstig zu beeinflussen. Wird Zucker unter Sauerstoffzufuhr nämlich nicht verbrannt , sondern in der Zelle vergoren, kann dies nach neuen Studien die Metastasierung und auch die Resistenz der Krebszellen gegen die Wirkstoffe der Chemotherapie begünstigen.



Trotz dieses kleinen Wermutstropfens ist der Ratgeber von Jutta Hübner als Einstiegslektüre für Patientinnen zu empfehlen, die sich einen Überblick über die Komplementärtherapie verschaffen möchten. Die „fortgeschrittene Leserin“ wird aber sicherlich fundierte Hinweise auf Studien und Tipps für weiterführende Lektüre vermissen. Hier hätte man sich ein Literaturverzeichnis und nicht nur Internetlinks von Selbsthilfegruppen, der Deutschen Krebsgesellschaft und Stiftungen gewünscht. Das Fazit: Ein informatives, leicht zu lesendes Buch und eine Art Gesundheitslexikon, das  Lust auf Mehr macht.

Jutta Hübner: Aloe, Mistel & Co – Ergänzende Wirkstoffe in der Krebsbehandlung, Ein Ratgeber für Patienten und Angehörige,
 Schattauer-Verlag, Stuttgart 2009, ISBN 978-3-7945-2691-8, Preis: 24,95 €

Wie wollen wir sterben?

Rezension von Annette Kruse-Keirath

Michael de Ridder hat sich mit einer provokanten Überschrift einem noch provakanteren Thema gewidmet: Der Antwort auf die Frage: Wie wollen wir sterben? In einer Gesellschaft, die das Sterben und den Tod weithin tabuisiert und in die Sterbezimmer der Kliniken abgeschoben hat,  lässt dieser Buchtitel aufhorchen.

Und das, was der Berliner Arzt , Rettungs-und Palliativmediziner auf gut 300 Seiten an Lebens- und Berufserfahrung zu Papier bringt, führt mitten ins Zentrum der in Deutschland zwischenzeitlich vehement geführten Debatte um Sterbekultur und Sterbehilfe. De Ridder berichtet gleich zu Beginn des Buches über eine ihn prägende „Sterbeerfahrung“ im Krankenhaus. Ein alleinstehender Patient mit einer Tumorerkrankung soll, weil er ja sowieso bald stirbt, in ein Einzelzimmer verlegt werden. Dieses steht nicht zur Verfügung. Nur in einem Sechsbettzimmer ist noch Platz. Aber kann man den fünf Anderen einen Sterbenden zumuten? Über diese Frage erschrickt der junge Arzt de  Ridder, weil ihm in diesem Moment klar wird: Der Tod gehört ins Leben – unter Menschen – nicht in die Verlassenheit eines Einzelzimmers.

Die Szene, die dann folgt, ist eine der ergreifendsten des ganzen Buches, das anhand vieler Einzelschicksale klar macht: Es gibt nicht das Sterben, den Tod; jede Sterbesituation, jedes Abschiednehmen ist anders – eine Tatsache, auf die die moderne Hochleistungsmedizin in keiner Weise Rücksicht nimmt. Die fünf anderen Männer geben dem Sterbenden das schönste Bett im Zimmer, organisieren eine 24-Stunden-Sitzwache für den Todkranken, lesen ihm vor, waschen ihn und geben ihm zu essen. Nach fünf Tagen stirbt der Patient in Anwesenheit aller – nicht allein. Und einer der Mitpatienten sagt: „Diese fünf Tage meines Lebens waren wichtig – ich werde sie nie vergessen!“. Hier erleben Menschen ein menschenwürdiges Sterben.

In den zwölf folgenden Kapiteln seines Buchs zeigt de Ridder anhand unterschiedlicher Beispiele eine Sterbewirklichkeit ganz anderer Art. Da ist die 86jährige Patientin, die bewusstlos und würdelos den Rettungsmarathon der Intensivmedizin – Legen von Zugängen, Wiederbelebung mit Defibrillator und manueller Herzmassage einschließlich Rippenbrüchen- durchläuft– weil der Stationsarzt glaubt, alles tun zu müssen, was getan werden kann - und doch stirbt.

Eingehend beschreibt der Autor die Furcht vieler Ärzte vor eigenverantwortlichen Entscheidungen. Auch wenn sie wissen, dass sie das Richtige tun, indem sie auf lebensverlängernde Maßnahmen verzichten, glauben viele, sich absichern zu müssen. Aus forensischen Gründen. Und dann die Angst davor, Sterben zuzulassen, wobei die behandelnde Ärztin nicht einmal erkennt, dass der eingelieferte 88jährige Patient im Sterben liegt. Weil ärztliches Handeln ja dem Leben verpflichtet ist und die Wahrnehmung von Sterben in Studium und Ausbildung nicht erlernt wird.

Das Buch geht auch kenntnisreich und in einer auch für Laien verständlichen Sprache auf die  Frage nach der Sinnhaftigkeit von Sondenernährung am Lebensende – de Ridder nennt das die Legende vom Verhungern und Verdursten - , einer angemessen Schmerztherapie und dem Recht auf ein selbstbestimmtes Leben bis zum und am Lebensende ein. In Erinnerung bleiben wird jedem Leser das Schicksal von Katharina S, einer 24jährigen Frau, die nach einem schweren Autounfall vom obersten Halswirbel an gelähmt ist und als „beatmeter Kopf“ zwischen Sterbewunsch und Lebensbejahung schwankt. Selbst dann, wenn sie es wollte, könnte sie ihrem Leben ohne fremde Hilfe kein Ende machen. Anhand dieses Beispiels stellt der Autor die schwierige Frage nach dem Erlaubtsein und der Berechtigung aktiver und passiver Sterbehilfe.

Eine abschließende Antwort findet das Buch nicht; es beschreibt aber Möglichkeiten, wie Ärzte Menschen auf dem Weg zu einem guten Tod begleiten können. Der ärztliche Auftrag, davon ist Michael de Ridder überzeugt, ist nicht nur zu heilen, sondern den Patienten auch das Sterben zu erleichtern. Dafür muss die Ärzteschaft, so sein Plädoyer, aber auch die Gesellschaft zu einem neuen Selbstverständnis finden und „Sterben annehmen, sterben gestalten“. Denn: Wer weiß schon, ob das Sterben nicht eigentlich das Leben und das Leben nicht eigentlich das Sterben ist.

Michael de Ridder: Wie wollen wir sterben? 309 Seiten, Deutsche Verlagsanstalt, 2010, ISBN 978-3-421-04419-8, Preis: 19,95 €