Das Anti-Krebs Buch

Rezension von Annette Bopp

Wieder ließ sich Servan-Schreiber operieren und unterzog sich zusätzlich einer einjährigen Chemotherapie. Der Schock des Rückfalls jedoch wird für den Autor des 2003 erschienenen Bestsellers „Die neue Medizin der Emotionen“ zum Anlass, sich der Frage „Was kann ich selbst für mich tun?“ neu und anders zu stellen. Denn, so sagt er sich: „Es wäre völlig unvernünftig, ausschließlich auf den rein technischen Ansatz zu vertrauen und die natürliche Fähigkeit unseres Körpers außer Acht zu lassen, sich vor Tumoren zu schützen.“ So weiterleben wie bisher erscheint ihm jetzt fatal – hat doch gerade dieses Leben mit dazu beigetragen, dass sich die Geschwulst von neuem bilden konnte.

Und so beginnt er, sich genauer mit der Frage auseinanderzusetzen, warum die Krebserkrankungen seit rund 1940 stetig zunehmen – und dies nicht nur, weil die Menschen älter werden: Zwischen 1975 und 1994, so belegt Servan-Schreiber, ist die Krebsrate in den USA bei Frauen unter 45 Jahren um 1,6 Prozent pro Jahr gestiegen, bei Männern sogar um 1,8 Prozent. Er zitiert Daten der Weltgesundheitsorganisation WHO, die eine besonders starke Zunahme der Krebserkrankungen bei Kindern und Jugendlichen seit 1970 nachweisen. Die Statistiken der WHO zeigen des Weiteren, dass Brust-, Prostata- und Darmkrebs bei Menschen aus den gleichen Altersgruppen in den USA und Nordeuropa neun Mal häufiger auftreten als in China, Laos und Korea und vier Mal häufiger als in Japan. Er macht darauf aufmerksam, dass die Brustkrebsrate bei Asiatinnen sprunghaft ansteigt, sobald sie in westlich orientierten Großstädten wie San Francisco oder Hongkong leben.

Hat diese „Krebsepidemie“ also mit der seit dem zweiten Weltkrieg deutlich gestiegenen Umweltverschmutzung, vor allem aber mit dem westlichen Lebensstil zu tun? Was veranlasst so einen Tumor zum Wachsen? Warum ist es Servan-Schreibers eigenem Körper nicht gelungen, die Krebszellen in Schach zu halten? Und was ist zu tun, damit er nicht binnen kurzem erneut mit einem Rückfall konfrontiert wird?

Auf der Suche nach den Antworten nutzt der Neurologe sein Knowhow als Wissenschaftler: er surft in Datenbanken, durchforstet Fachzeitschriften, besucht Kongresse und überprüft jede Hypothese, die ihm begegnet. Das Ergebnis seiner Recherchen sowie wissenschaftliche Erkenntnisse aus jüngster Vergangenheit trägt Servan-Schreiber – durchflochten von seiner persönlichen Krankheitsgeschichte, die er erstmals öffentlich macht – auf 352 Seiten in einem Buch zusammen: „Das Anti-Krebs-Buch“ (Kunstmann Verlag 2008). Jede Aussage, jede Studie ist minutiös dokumentiert und belegt; die Bibliographie im Anhang umfasst 388 Quellenangaben und nimmt im Buch 26 Seiten ein – eine für ein allgemeinverständliches Sachbuch außergewöhnliche Detailversessenheit.

Der Autor hat dafür seine Gründe: Es geht ihm um Glaubwürdigkeit, Anerkennung, Beweise. Denn er ist überzeugt: „Es handelt sich hier um einen Durchbruch in der Krebstherapie.“ Dieser Durchbruch besteht für ihn in vier Ansätzen, die dem Krebs entgegenwirken sollen: Sich vor Schadstoffen aus der Umwelt schützen.Die Ernährung so umstellen, dass Lebensmittel, die das Krebswachstum anheizen können, verringert und solche, die es bremsen können, bevorzugt werden. Seelische Wunden, die die biologischen Mechanismen bei der Krebsentstehung aktivieren können, heilen. Das Immunsystem anregen und krebsfördernde Entzündungsprozesse eindämmen.

Das klingt relativ trivial und ist in dieser Art noch nichts Neues. Das Besondere an diesem Buch ist, dass es erstmals eine Fülle von Belegen zusammenträgt, dass all diese Maßnahmen eine wissenschaftliche Basis haben und nicht auf Treu und Glauben beruhen. Auch zeigt Servan-Schreiber anschaulich und realitätsnah, wie sich dieses Vier-Punkte-Programm im Alltag umsetzen lässt, mit allen Möglichkeiten und Grenzen. Er nimmt den Leser erzählend an die Hand, drängt nichts auf, stellt lediglich vor, gibt zu bedenken, schildert Studienergebnisse – sachlich, freilassend und uneitel, aber doch mit spürbarem Engagement, und vor allem mit einer entwaffnenden Ehrlichkeit. Servan-Schreiber hält seine eigene Skepsis nicht zurück, die ihn anfangs befallen hat, als er las, dass Kurkuma, grüner Tee und Himbeeren Immunzellen auf Trab bringen sollen. Er gibt seine frühere Elfenbeinturm-Mentalität zu, seine Vorbehalte gegenüber Ernährungsumstellung oder Meditation und spricht damit offen aus, was viele – sicher auch noch bei der Lektüre der ersten Kapitel – denken. Mit dieser Ehrlichkeit (die jedoch nie in peinliche Selbstbezichtigung verfällt), fördert er leise und geschickt die Bereitschaft, sich auf seine Überlegungen einzulassen, ihm in seiner Argumentation zu folgen.

Servan-Schreiber macht Forschungsergebnisse transparent, die normalerweise nur Wissenschaftlern zugänglich und auch verständlich sind. So schildert er beispielsweise, wie 2006 der Nachweis gelingt, dass der Organismus mithilfe aktivierter Immunzellen innerhalb eines halben Tages bis zu 10 Prozent des Körpergewichts an Krebszellen beseitigen kann. Niemand, so sagt er, hätte eine solche Leistung zuvor für möglich gehalten, am allerwenigsten die Immunologen. Die Ressourcen des Körpers und seine Fähigkeit, mit Krankheiten fertig zu werden, unterschätze die Naturwissenschaft immer noch.

Er zeigt Möglichkeiten und Wege zur Aktivierung des Immunsystems auf, die auch ein nicht von Privilegien gesegneter Arbeiter, eine Hausfrau oder eine Sekretärin umsetzen kann: Eine halbe Stunde Spazierengehen reicht, um dem Körper ein Minimum an Bewegung zu verschaffen. Arbeitshetze und Stress lassen sich durch täglich 15 Minuten Meditation, Yoga oder andere Entspannungsübungen abbauen. Das Gefühl ohnmächtiger Hilflosigkeit in Krisensituationen legt sich, indem man darüber spricht und sich Hilfe bei Freunden, Nachbarn oder professionellen Therapeuten sucht. Denn – das zeigen die Beweise aus der Psychoneuroimmunologie – ein ausgeglichenes Seelenleben wirkt sich über Nervenbotenstoffe und vielerlei andere Mechanismen positiv auf die Immunabwehr aus.

Den größten Raum der Beweisführung für die Wirksamkeit seines Vier-Punkte-Programms jedoch widmet Servan-Schreiber dem Einfluss der Ernährung auf das Krebsgeschehen. Fast wie ein Krimi liest sich die Geschichte des Chirurgen Judah Folkman und seiner Annahme, dass Tumore nur dann wachsen können, wenn sie es schaffen, die umgebenden Blutgefäße für ihre Sauerstoff- und Nährstoffversorgung umzufunktionieren und eine Vielzahl neuer Adern sprießen zu lassen. Es dauerte 20 Jahre, bis Folkmans These von der „Angiogenese“ 1994 endlich anerkannt wurde. Heute ist sie eines der wichtigsten Forschungsgebiete in der Onkologie und vor allem auch der Pharmaindustrie, die immer neue Hemmstoffe (sogenannte Neo-Angiogenese-Hemmer) zu synthetisieren versucht. Exakt solche Wirkstoffe existieren jedoch bereits, wie Servan-Schreiber ausführt: in diversen Pilzen (die vorwiegend in der asiatischen Küche verwendet werden), in grünem Tee, Erd- und Himbeeren, Wal-, Hasel- und Pecannüssen. Ätherische Öle und Inhaltsstoffe von Minze, Thymian, Majoran, Oregano, Basilikum und Rosmarin hemmen die Bildung neuer Blutgefäße in Zellkulturen sogar ähnlich wirksam wie der Bestseller unter den modernen Chemotherapeutika, der Neo-Angiogenese-Hemmer Glivec, der seit 2001 vor allem bei chronisch myeloischer Leukämie als Wundermittel gefeiert wird, oder Avastin, der seit kurzem gegen den metastasierten Brustkrebs zugelassen ist.

Andere Lebensmittel wiederum, so weist Servan-Schreiber nach, setzen Entzündungsfaktoren im Körper frei und könnten dadurch wie Dünger für Krebszellen wirken. Es sind dies vor allem Speisen und Getränke, die im Körper einen raschen Insulinanstieg provozieren, also einen hohen „glykämischen Index“ aufweisen (Kartoffelbrei, Cornflakes, Crispies, Weißmehlprodukte, Zucker, Honig, Marmelade, Kompott, Limonaden), aber auch Omega-6-Fettsäuren (etwa aus gehärteten Fetten, Sonnenblumen- und Maisöl) sowie Fleisch, Eier und Milchprodukte aus konventioneller Landwirtschaft mit Massentierhaltung unter Verwendung von Wachstumshormonen. Entzündungshemmend wirken dagegen die sekundären Pflanzenstoffe aus grünem und Kohlgemüse, Kurkuma (insbesondere in Verbindung mit Pfeffer in Curry-Gewürzmischungen), Ingwer, Knoblauch, Zwiebeln sowie Omega-3-Fettsäuren (in Fisch, Oliven- und Leinöl) und Speisen mit niedrigem glykämischem Index (Hülsenfrüchte, Vollkornprodukte, Haferflocken, Müsli, Heidelbeeren, Kirschen, Agavendicksaft als Zuckerersatz, schwarze statt Milchschokolade).

Die westlichen Ernährungsgewohnheiten, so schlussfolgert Servan-Schreiber und beruft sich dabei vor allem auch auf den renommierten Biochemiker Richard Béliveau von der Universität Montreal, begünstigen die Krebsentwicklung maximal. Eine Umstellung auf asiatisch-mediterrane Kost mit Produkten aus biologischem Anbau (die heute bei jedem Discounter im Regal stehen) dagegen, so Servan-Schreiber, ist heute für jeden machbar, und selbst wenn man immer mal wieder aus Kostengründen zu Obst und Gemüse aus konventionellem Anbau greifen müsse, so überwiege die krebsschützende Wirkung die schädliche der Insektizide oder Pestizide allemal.

Vielleicht schafft dieses Buch noch nicht den vom Autor erhofften entscheidenden Durchbruch in der modernen Krebstherapie. Eine Studie nach den „Goldstandards“ der naturwissenschaftlichen Medizin, mit harten Daten für einen Überlebensvorteil bei Krebs durch einen gesunden Lebensstil, gibt es noch nicht (und bisher auch keine Lobby, welche die dafür nötigen Gelder locker macht). Nur: Wenn Krebskranke warten, bis eine solche Studie den finalen Kausalitätsbeweis liefert, sind sie vermutlich schon gestorben. Servan-Schreibers Erfahrungen und das von ihm so eingängig aufbereitete vielfarbige Puzzle aus Wissenschaft und Forschung sind für jeden nachprüfbar und untermauern zumindest eines absolut überzeugend: niemand ist der Krankheit machtlos ausgeliefert. Und so könnte sein Buch die Therapie auf anderem Wege revolutionieren: von unten, von Seiten der Patienten. Es ist eine großartige Motivation, schon jetzt zu handeln. „Was kann ich selbst für mich tun?“ Hier ist die Antwort.

David Servan-Schreiber: Das Anti-Krebs-Buch. Was uns schützt: Vorbeugen und Nachsorgen mit natürlichen Mitteln. 352 Seiten, mit farbigen Abbildungen und 16seitigem Ernährungsplaner, Kunstmann Verlag, München, 24,90 Euro